Pressemitteilung

Wie die ökonomische Zeitenwende gelingt
  • Strukturelle Defizite und das Wegbrechen wesentlicher Säulen der wirtschaftlichen Stärke verschärfen langfristige Perspektive
  • Es bedarf eines grundsätzlichen Updates der deutschen Volkswirtschaft
  • Bain definiert fünf Felder zur Neuausrichtung, um erfolgreich zu bleiben

Die Vielzahl der aktuellen Krisen – vom Krieg in der Ukraine über die Inflation und drohende Rezession bis hin zu gestörten Lieferketten, Arbeitskräftemangel und geopolitischen Veränderungen – hat Deutschlands Wirtschaft zuletzt stark zugesetzt. Im Gegensatz zu früheren Disruptionen erhöhen strukturelle Defizite das Risiko, nach Ende der konjunkturellen Talfahrt nicht mehr zügig zu alter Stärke zurückzukehren, so die Analyse der internationalen Unternehmensberatung Bain & Company. Zentrale Säulen des Wohlstands wie Sicherheit und Verteidigung aus den USA, günstige Energie aus Russland und Wachstumsmärkte in China sind weggebrochen oder zumindest gefährdet. Zudem haben hiesige Unternehmen bei hochinnovativen Zukunftstechnologien in vielen Bereichen international den Anschluss verpasst.

„Deutschlands wirtschaftliches Erfolgsmodell scheint erstmals seit vielen Jahrzehnten ernsthaft bedroht“, stellt Bain-Deutschlandchef Walter Sinn fest. „Um die außerordentliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes im globalen Vergleich mittel- und langfristig zu halten, benötigt unsere Volkswirtschaft ein Update.“ Ein besonderer Fokus liegt dabei auf fünf Bereichen, in denen umgesteuert werden muss:

1. Mit kraftvoller Industriepolitik den Rahmen setzen. Die geopolitischen Veränderungen zwingen Deutschland dazu, eine Phase der konzertierten Standortpolitik einzuläuten, die klare Investitionsschwerpunkte setzt, Zugang zu wichtigen Ressourcen sicherstellt und Handelspartnerschaften eingeht. Andere Länder wie China oder die USA fördern bereits seit Langem gezielt Schlüsselindustrien und stärken heimische Unternehmen im internationalen Wettbewerb. „Eine neue deutsche Standortpolitik muss in eine europäische Vision eingebettet sein“, ist Sinn überzeugt. „Deutschland kann seinen Wohlstand auf Dauer nur im Rahmen eines wirtschaftlich starken und politisch geeinten Kontinents sichern.“ Das gelte angesichts der aktuellen Knappheiten für die Energieversorgung ebenso wie für den Rohstoffsektor – insbesondere für seltene Erden, wo angesichts der bestehenden Abhängigkeiten eine klare Zukunftsstrategie erforderlich sei.

2.  Den Fokus auf Innovationen und Technologien legen. Deutschlands wirtschaftliche Stärke beruht oft auf analogen Geschäftsmodellen. „Die Marke ‚Made in Germany‘ ist reformbedürftig“, konstatiert Sinn. „In Verbindung mit einer kraftvollen Industriepolitik sollten wir uns verstärkt auf unsere Kernstärken Innovation und Technologie fokussieren.“ Angesichts der partiellen Entflechtung der globalen Wirtschaft spielt dabei Souveränität eine zentrale Rolle. Gerade Industrie 4.0 ist ein Schlüsselthema, bei dem hiesige Unternehmen – vom Mittelstand bis hin zum Konzern – ihre Weltklasse unter Beweis stellen können. Nicht nur bei Halbleitern, sondern auch bei Quantencomputern, in puncto Biotechnologie und, neuerdings wieder, Rüstung muss Deutschland im Schulterschluss mit Europa unabhängiger werden. Beim Ausbau der notwendigen Infrastruktur, dazu zählt etwa das 5G-Netz, liegt Deutschland im globalen Vergleich allerdings noch im Mittelfeld. Deshalb geht es jetzt darum, umso intensiver auf die nächste Technologiegeneration zu setzen und gegebenenfalls einzelne Technologie-Generationen zu überspringen.

3. Gründergeist und Unternehmertun fördern. Deutschland benötigt für mehr disruptive Innovationen, die die Arbeitsplätze von morgen schaffen, einen deutlich leistungsfähigeren Markt für Wagniskapital. Von den 2021 etwa 1.370 Unicorns rund um den Globus waren weniger als 40 aus Deutschland. Dies ist auch Folge eines kaum entwickelten IPO-Markts. 2021 betrug das weltweite Emissionsvolumen rund 600 Milliarden US-Dollar, hierzulande sammelten Erstemittenten lediglich ein Sechzigstel ein. „Für die langfristige Transformation der deutschen Volkswirtschaft ist eine florierende Gründerkultur – gepaart mit mehr Risikobereitschaft – von elementarer Bedeutung“, betont Sinn. „Denn um Wachstum zu finanzieren, braucht es Liquidität.“ Entscheidende Rahmenbedingungen für Wagniskapitalinvestitionen müssten hierzulande neu gestaltet werden, etwa was die steuerliche Behandlung oder die Möglichkeit für Mitarbeiterbeteiligungen betreffe.

4. Nachhaltigkeit im gesamten Unternehmen priorisieren. Unternehmen werden von Stakeholdern zunehmend danach bewertet, ob es ihnen gelingt, verantwortungsvoll zu wirtschaften. Klima- und umweltschonende Technologien könnten damit zum deutschen Exportmodell der Zukunft werden. Im Bewusstsein der hiesigen CEOs ist diese Handlungsoption bereits angekommen: Laut einer 2021 durchgeführten Bain-Studie halten neun von zehn Befragten Nachhaltigkeit in den kommenden fünf Jahren für mindestens genauso wichtig wie die Digitalisierung, nahezu die Hälfte erachtet sie sogar als bedeutender. „Nachhaltigkeit muss künftig alle Funktionsbereiche eines Unternehmens umfassen, vom Lieferkettenmanagement über die Produktion bis hin zur Vermarktung der Produkte und Dienstleistungen“, so Sinn. Und sie müsse sich lohnen. Bei Automobilzulieferern beispielsweise können laut Bain-Analysen mithilfe von Dekarbonisierungsprojekten bis zu 50 Prozent der Emissionen mit einem positiven Return on Investment eingespart werden.

5. Mit „Smart Resilience“ allen Unwägbarkeiten trotzen. Die Pandemie und geopolitische Veränderungen haben das Zeitalter der grenzenlosen Globalisierung beendet. Um widerstandsfähiger gegenüber Krisen zu werden, ist ein Konzept erforderlich, das Bain als „Smart Resilience“ bezeichnet. Dabei sind Abhängigkeiten und fragile Lieferketten zu überdenken. Auf strategischer Ebene geht es um die langfristige Ausrichtung des Geschäftsportfolios und um Investitionen in Produktionsstandorte. Operativ sollten Lieferketten und -prozesse nicht nur effizient, sondern auch robust gestaltet werden. Voraussetzung dafür ist eine durchgängige Transparenz über mehrere Stufen und Unternehmen hinweg, vom Vorprodukt bis hin zur Endkundschaft – die sogenannte Traceability. „Moderne Technologien und Datennutzung machen Prozesse rund um die Lieferkette intelligenter und ressourcenschonender“, erläutert Sinn. „So lassen sich genauere Vorhersagen treffen und Szenarien entwickeln, die etwa auf geopolitische Veränderungen schneller einzahlen.“ Auch der CO2-Fußabdruck inklusive Scope 3 sei so besser quantifizierbar.

Kraftakt erforderlich

„Das deutsche Geschäftsmodell benötigt zweifellos ein Update, eingebettet in ein starkes Europa“, resümiert Sinn. Dies setze jedoch die Bereitschaft voraus, grundlegende Veränderungen anzugehen. „Es braucht jetzt Offenheit für die besten Talente aus aller Welt und ein exzellentes Bildungsniveau vor allem im Hinblick auf digitale Schlüsselindustrien“, so Sinn. Gelinge dieser Kraftakt, werde sich die deutsche Wirtschaft auch künftig international Wettbewerbsvorteile sichern und die Gefahr anhaltender Wohlstandsverluste abwenden können.