Das Wertpapiergeschäft deutscher Banken wächst – und ein Ende ist nicht in Sicht. Zwischen 2020 und 2030 dürfte die Zahl der Depots um rund 50 Prozent auf bis zu 40 Millionen steigen. Treiber sind echte Neukundengewinne, aber auch der zunehmende Trend hin zum Zweitdepot, was die tatsächliche Abwanderung von Kundschaft und Volumen verschleiert. Gleichzeitig wird der Wert der Portfolios privater Investoren voraussichtlich um rund 45 Prozent auf bis zu 2 Billionen Euro zulegen. Traditionelle Retail-Banken, deren Angebote historisch auf persönlicher Beratung und aktiv gemanagten Produkte beruhen, dominieren nach wie vor den Markt – verlieren jedoch zunehmend an Boden. Wo ihnen in den 2000er Jahren vor allem die Online-Banken zusetzten, gefährdet in den letzten Jahren der massive Aufstieg von Neobrokern wie TradeRepublic oder Scalable Capital ihre Position in einer der ertragsreichsten Produktkategorien im Retail-Banking.
Der Marktanteilsverlust traditioneller Anbieter zeigt sich derzeit „nur“ relativ - was bedeutet, dass die eigenen Stückzahlen weitestgehend stabil sind, während Neobroker jedoch neue Depots und Kunden deutlich oberhalb des allgemeinen Marktwachstums hinzugewinnen. Anders stellt sich die Lage beim Ergebnisbeitrag des Wertpapiergeschäfts dar: Hier ist der Rückgang bei traditionellen Banken bereits absolut rückläufig. Kunden wandern zu Neobrokern ab und zeitgleich etablieren sich neue Standards für die Wertpapieranlage: niedrigere Depot- und Ordergebühren sowie der endgültige Durchbruch von ETFs.
Bildlich gesprochen: Der große Eisberg der Wertpapiererträge aus Depotführung, Beratung und (aktiven Fonds-)Produkten der traditionellen Anbieter schmilzt. Noch ist der wahrgenommene Rückgang aufgrund der großen Bestandsbasis und des allgemeinen Marktwachstums gering. Doch um den Trend mit Blick auf die nächste Kundengeneration zu stoppen oder sogar umzukehren, sind die richtigen strategischen Weichen jetzt zu stellen.
Mehrzahl der unter 35-Jährigen entscheidet sich für ein Depot bei Neobrokern
Eine Entwicklung sollte die Platzhirsche im deutschen Retail-Banking besonders alarmieren: Das Angebot der Neobroker entspricht offenkundig am besten den Bedürfnissen der wachsenden Zahl von (selbstwahrgenommenen) Digital-First-Kunden. Unabhängig von der Altersgruppe achtet diese Zielgruppe insbesondere auf ein übersichtliches Produktportfolio, transparente sowie attraktive Preise, eine zielgruppengerechte Ansprache und eine einfache Handhabung der Apps, also auf eine Best-in-Class User Experience. Genau hier setzen die Neobroker an – und etablieren sich zunehmend als bevorzugte Anlaufstelle für diese Kundengruppe. Das schließt auch die sogenannte Erbengeneration ein, die in den kommenden Jahren über erhebliche Vermögenszuwächse verfügen wird.
Doch die Abwanderung ist längst nicht mehr nur auf die junge Kundschaft beschränkt – auch bei den Älteren bröckelt die Bindung zur Hausbank, während die Anzahl an Bankverbindungen zunimmt. Die Weiterempfehlungsbereitschaft von Broker-Angeboten, gemessen am Net Promoter Score (NPS®) von Bain, spricht eine deutliche Sprache: Neobroker erreichen im Durchschnitt 18 Prozent und Online-Banken 12 Prozent – traditionelle Anbieter hingegen fallen mit 2 Prozent deutlich zurück. Ein noch dramatischeres Bild zeigt sich mit Blick auf die Zufriedenheit zentraler Kundenepisoden und -journeys zum Wertpapiergeschäft. Laut der jüngsten Bain NPS Prism®-Studie beträgt der Abstand zu marktführenden Digitalanbietern hier je nach Episode bis zu 40 Prozentpunkte. In Summe haben Sparkassen, Volks- und Privatbanken also das Nachsehen.
Neobroker sind hier, um zu bleiben
Mancher Branchenvertreter mag darauf hoffen, dass das EU-weite Verbot des Payment-for-order-flow (PFOF) ab 2026 dieser Entwicklung ein Ende setzen wird. Tatsächlich ist das Wertpapiergeschäft bislang das Ankerprodukt der Neobroker – und die Rückvergütungen der Handelsplattformen sind ein wesentlicher Ertragstreiber ihres Geschäftsmodells. Doch die Neobroker arbeiten längst an passenden Antworten: Neben der Anpassung bestehender Modelle durch vertikale Integration und eigene Ausführungsinfrastruktur – unter Beachtung der Vorgaben zu BestEx, Transparenzpflichten und weiterer Regularien – ist eine sukzessive Erweiterung ihres Geschäftsmodells bei fast allen Anbietern zu beobachten.
Ausgehend vom Wertpapiergeschäft als Ankerprodukt erweitern Neobroker sukzessive ihr Leistungsportfolio etwa um Girokonten und weitere Bankdienstleistungen. Wie bei digitalen Modellen üblich, liegt der Schwerpunkt derzeit darauf, die Kundenbeziehung konsequent zu vertiefen sowie den Share of Wallets mit ihren Kunden auszuweiten. Diese Entwicklung hin zu einem Vollbankangebot macht Neobroker also zu einer noch größeren Bedrohung für die traditionellen Retail-Banken.
Traditionelle Anbieter müssen passgenaue Antworten formulieren
Der Konkurrenzdruck wird damit nicht nur im Wertpapiergeschäft weiter zunehmen. Um ihre starke Stellung zu verteidigen, müssen traditionelle Anbieter ihr Angebot konsequent nach den Bedürfnissen ihrer Kunden ausrichten, wobei die Erfolgsrezepte der Neobroker dabei Inspiration liefern können. Das gilt für ihr Produktportfolio genauso wie für ihre Preispolitik. Hinzu kommt das unermüdliche Streben nach einer bestmöglichen Nutzererfahrung sowie einer passenden Ansprache für das digitale Zeitalter.
Nur den Wettbewerb zu kopieren, wird dagegen nicht ausreichen – vielmehr sind die eigenen Stärken nicht aus dem Blickfeld zu verlieren und konsequent zu untermauern. Denn bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass auch vermeintliche Digital-First-Kunden oftmals einen Mehrwert in der bedarfsgerechten, persönlichen Beratung sehen.
Der Handlungsbedarf ist unbestritten, die Lösungsansätze sind jedoch institutionsindividuell. Je nach Ausgangslage reicht das Spektrum an Optionen von einer selektiven Weiterentwicklung des bestehenden Angebots bis hin zu radikalen Ansätzen, wie etwa einem rein digitalen Angebot. Unabhängig von der individuellen, strategischen Weichenstellung sind einige Grundsätze als kurzfristige Ansätze in jedem Fall erfolgsversprechend:
- „Weniger ist mehr“. Kunden schätzen Einfachheit – nicht Komplexität. Das eigene Produktportfolio und die Preisgestaltung sind vor diesem Hintergrund zu hinterfragen.
- Effizienz- und Skaleneffekte. Komplexitätsreduktion im Produktangebot und dessen Ausgestaltung zahlt zeitgleich auf die eigene Effizienz ein, was Ressourcen freispielt und attraktive Endkundenpreise ermöglicht. Retail-Banking ist und bleibt ein Massengeschäft.
- Aktive Ansprache und Rückgewinnung. Kunden sind kommunikativ vom eigenen Angebot zu überzeugen – mittels gezielter, proaktiver Ansprache über digitale Kanäle ebenso wie durch reaktive Rückgewinnung abwanderungsgefährdeter Bestandskunden. Das erfordert dedizierte Taskforces, die frühzeitig auf entsprechende Signale reagieren und passgenaue Maßnahmen einleiten.
- Konsequente Kundenorientierung. Den Kunden gilt es konsequent in den Mittelpunkt zu stellen – und insbesondere bei jenen Kundenepisoden zu glänzen, mit denen sich traditionelle Anbieter gegenüber Neobrokern differenzieren können. Das bedingt ein Verständnis der eigenen Stärken und wo eigene Episoden vereinfacht und optimiert werden müssen.
Einzigartige Chance durch Frühstart-Rente und Altersvorsorgedepot
Nichtstun ist keine Option – zumal sich im aktuellen Umfeld eine seltene Gelegenheit eröffnet: Mit der Frühstart-Rente, die Minderjährige frühzeitig an die Wertpapieranlage heranführen soll, sowie dem Altersvorsorgedepot für die breite Masse bringt die Bundesregierung derzeit zwei Förderungen der privaten Altersvorsorge auf den Weg. Mit der laufenden legislativen Befassung wird die Depoteröffnung für die Breite der Gesellschaft in Deutschland schon bald zu einem zentralen Thema. Die entscheidende Frage lautet: Wo werden diese Depots eröffnet? Vermutlich dort, wo die Einstiegshürden niedrig, das Angebot einfach verständlich und die Preise attraktiv sind.
Für traditionelle Retail-Banken ist das eine einmalige Chance, sich im Wettbewerb um neue Kunden und die nächste Generation zu positionieren – um so ihre starke Stellung im deutschen Retail-Geschäft wirksam abzusichern. Dafür braucht es jedoch die richtige Weichenstellung.